Black Tea – Weltpremiere auf der Berlinale 2024

von Dr. Hans-Joachim Rudolph

Im Rahmen der Berlinale sahen wir gestern einen Film des in Mauretanien geborenen Regisseurs Abderrahmane Sissako. Wie schon in seinen früheren Werken geht es um Migration und die Folgen des Kolonialismus, diesmal aber nicht um Migration aus ökonomischer oder kriegsbedingter Not, sondern um kulturellen Austausch und Begegnung. Und im Unterschied zu früher führt die Migrationsbewegung nicht in den Westen, sondern in den Osten – von der afrikanischen Elfenbeinküste in den Süden Chinas.

Der Film beginnt mit einer Gruppenhochzeit. In der ersten Reihe sitzt Aya, die sich im letzten Augenblick aber gegen die Heirat entscheidet und überraschenderweise “nein” sagt. Danach wird sie uns als stolze, wachsam und selbstbewusst in die Welt schauende Frau vorgestellt, die beschließt, ein neues Leben anzufangen – und zwar in “Chocolate City”, einem Stadtteil der chinesischen Hafenstadt Guangzhou, in der viele afrikanische Einwanderer leben.

Hier trifft die fröhliche und ungezwungene Art der Afrikaner auf die zurückhaltende, oft gehemmt wirkende Mentalität der Chinesen, so dass sich unweigerlich viele spannende Situationen ergeben. Die Reaktionen sind aber auf beiden Seiten geprägt von Verwunderung und Neugierde.

An der schönen, selbstbewussten Aya fällt allerdings noch etwas anderes auf: Sie scheint es überhaupt nicht darauf angelegt zu haben, einen Partner oder eine Partnerin zu finden. Während sich alle anderen nach Zweisamkeit sehnen und dabei in die verschiedensten Konflikte geraten, ruht Aya in sich selbst: Sie bleibt, wie sie sagt, immer glücklich.

Das erinnert an Platons Symposion und die Rede des Aristophanes, welcher erklärte, dass man, um das Wesen des Eros zu verstehen, in die Vorzeit zurückgehen müsse. Damals habe es nicht zwei, sondern drei Geschlechter gegeben: die Frauen, die Männer und die androgynen, also zweigeschlechtlichen Wesen. Sie alle hatten eine kugelförmige Gestalt und besaßen zwei Köpfe, zwei Hälse, vier Arme und vier Beine sowie zwei Geschlechtsteile. Sie waren kräftige, selbstbewusste Wesen. Als sie allerdings zu mächtig wurden, beschloss Zeus die Kugelmenschen in zwei Hälften zu teilen. Er zerschlug die Doppelwesen in der Mitte und Gott Apollon heilte die Schnittwunden, indem er ihre Bäuche zusammenschnürte, wodurch der Nabel entstand.

“Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke von einem Menschen, weil wir zerschnitten, wie die Schollen, zwei aus einem geworden sind. Daher sucht denn jeder beständig seine andere Hälfte.”

Gerade dies scheint aber bei Aya nicht der Fall zu sein, sie scheint, im Unterschied zu ihren Mitmenschen, für sich genommen komplett zu sein.

Das führt mich zu einem Vergleich mit Carl Gustav Jungs Anima und Animus. Im Unterschied zu Aristophanes’ Erklärung, geht es dabei nicht um zwei verschiedene Wesen, sondern um eine innerseelische Spannung:

Nach Jung sind in unserem kollektiven Unbewussten zwei wichtige Archetypen angelegt. Sie sind unabhängig von individuellen Erfahrung, und stellen eigentlich nur Strukturen zu Möglichkeiten menschlicher Imagination und Emotionalität dar. Sie können sich aber äußern, und zwar als Stimmungen und Launen, in Begeisterung und Verliebtheit sowie in Träumen und Mythen. Plakativ können die inneren oder äußeren Bilder von Anima und Animus als „Personifikationen der weiblichen Natur im Unbewussten des Mannes und der männlichen Natur im Unbewussten der Frau“ bezeichnet werden. Jung betonte, dass Animus und Anima wie alle Archetypen „günstige und ungünstige, helle und dunkle, gute und böse Wirkungen entfalten können“.

In der Regel wird der weniger ausgeprägt Aspekt aber entweder nach außen projiziert oder verleugnet. Dies beeinflusst die Dynamik unserer menschlichen Beziehungen. Die unbewusste Schattenseite bemüht sich, den fehlenden Anteil durch einen Partner zu ergänzen. Das unbewusste Vorgehen besteht nicht selten darin, sich einen Partner zu suchen, der die eigenen, verdrängten, abgewerteten, nicht ausgebildeten oder ungeliebten Anteile verkörpert und darstellt. Das bedeutet, dass die eigene Unvollkommenheit durch den Partner ergänzt und abgedeckt werden soll.

Langfristig birgt diese Strategie allerdings erhebliches Konfliktpotenzial in sich. Denn zwei unvollkommene Personen spiegeln sich gegenseitig das wider, was dem anderen jeweils fehlt. Bei diesem Zusammenspiel pflegt der eine Partner – unabhängig vom biologischen Geschlecht – die progressiven Anteile, verbietet es sich also schwach zu sein, während der regressive Partner sich ausruht und Verantwortung abgibt beziehungsweise verweigert.

Im Unterschied dazu geht es in einer emotionalen Entwicklung darum, nicht nur die eine Seite auszubilden und den Partner als Ausgleich und Ergänzung der schwach ausgebildeten Seite zu benutzen, sondern darum, die innerlich unbelebte oder abgelehnte Seite zu entfalten. Die Auseinandersetzung mit dieser Projektion und das Bemühen um eine Entfaltung der männlichen Kraft in der Frau, bzw. der weiblichen Kraft im Mann kann helfen, den jeweiligen Partner als Chance zur Entwicklung des eigenen Potenzials zu sehen.

In diesem Sinne erkenne ich in Aya die Verkörperung eines modernen Menschen, der die Lehren der Analytischen Psychologie tatsächlich verstanden und verinnerlicht hat.

Das ist aber noch nicht alles – schließlich geht es in dem Film, wie der Titel andeutet, auch um die traditionelle Tee-Zeremonie. Ich selbst kam mit dieser Kunst erstmals 1971 in Berührung, als mir Horst Hammitzschs „Zen in der Kunst der Tee-Zeremonie“ in die Hände fiel. Neben Georges Ohsawas „Zen Makrobiotik“ waren dies meine ersten Berührungen mit östlichen Weisheitslehren. Durch sie kam ich auf die Idee, dass Achtsamkeit und ein einfaches Leben zusammengehören und ein glückliches Dasein ermöglichen könnten.

Im Film findet Aya jedenfalls zunächst eine Anstellung in einem renommierten Teegeschäft. Es gehört dem unglücklich verheirateten Chinesen Cai. Nachdem es ihm gelungen ist ihr Interesse an der chinesischen Tee-Zeremonie zu wecken, macht er sie Schritt für Schritt mit dieser Kunst vertraut. Dabei wird aus ihrer anfangs förmlichen Beziehung eine sehr zärtliche Liebe. Interessanterweise ermöglicht diese einen Genuss ohne Begehren: Sie erproben und genießen die verschiedenen Tee-Aromen, ohne sich gegenseitig zu begehren – der Geruchs- und Geschmackssinn wird intensiv angesprochen, aber anders adressiert – so dass sich im Ergebnis ein kostbarer, irgendwie zwischen sinnlicher und platonischer Liebe befindlicher Zustand einstellt…

Tee zubereiten, zu sitzen und ihn in Ruhe genießen – ist das nicht auch eine Art Meditation?

Wenn überhaupt sollte der Tee die Meditation unterstützen… und nicht umgekehrt… wobei zu viele Worte die Sache unklarer machen können als sie ist …

Und wenn ich Tee mache, ist mein Ziel natürlich auch: Achtsamkeit und das “im Hier und Jetzt sein” zu üben, genau wie bei der Meditation. 

One thought on “Black Tea – Weltpremiere auf der Berlinale 2024

  1. Filme sind in der Regel teuer. Sie müssen also entweder einem Massengeschmack entsprechen, oder, bei anspruchsvolleren Produktionen, mit Staatsgeldern subventioniert werden. Deshalb sieht man im Fernsehen inzwischen in fast jedem Film homo- oder transsexuelle Paare. Die Geschlechterrollen sind häufig vertauscht, die Familienstruktur ein Patchwork, usw. Das alles hat prägenden Einfluss auf die Zuschauer, sie werden auf diese Art und Weise in die gewünschte Richtung erzogen bzw. genugded. Im Laufe der Zeit merken das die Leute allerdings und fangen dann an sich zu wehren.
    Zensur wirkt also auch bei der Filmförderung!
    Unter Dieter Kosslick hatte die Berlinale noch eine internationale Klasse. Sie konnte zwar kaum mit Cannes und Venedig mithalten, hielt aber doch einen guten dritten Platz. Mit Tricia Tuttle ist inzwischen eine lesbische US-Amerikanerin an die Spitze gestellt worden; sie hatte zuvor das Londoner BFI Lesbian and Gay Film Festival geleitet. Entsprechend sieht das Programm jetzt aus:
    Bei den meisten Filmen hat man das Gefühl erzogen zu werden…

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