Pramá und das dynamische Gleichgewicht

– Von Dr. Hans-Joachim Rudolph, MRI

Im September 2024 wird unsere Berliner Unit erstmals an der Langen Nacht der Religionen teilnehmen. Dieses Großereignis wird auf Initiative des Berliner Senats seit 2012 jährlich 1 x veranstaltet. Die teilnehmenden Religionsgemeinschaften, Kirchen-, Moschee- und Synagogengemeinden, interreligiösen Gruppen sowie wissenschaftlichen Einrichtungen eint ein Interesse am friedlichen Miteinander der verschiedenen Kulturen. Ihr Ziel ist es, die Dialogbereitschaft, den Zusammenhalt und den gegenseitigen Respekt in unserer Metropolregion zu fördern und zu stärken.

Das diesjährige Motto der Veranstaltung lautet „Gleichgewicht“. Deshalb bietet es sich an, unseren Beitrag unter das Motto Pramá zu stellen. Pramá ist ein Begriff aus dem Sanskrit und bedeutet dynamisches Gleichgewicht. Der Gründer unserer Bewegung, Shri Prabhat Ranjan Sarkar, hat dazu einiges geschrieben. In „A Few Problems Solved, Part 8“ (1987) findet man unter der Überschrift „Dynamic Balance (Pramá)“ u.a.:

Human society today has reached the stage of degeneration and, as a result, is lost in the wilderness of economic bankruptcy, social unrest, cultural degeneration and religious superstition.

Once the society reaches the state of degeneration, the balance in the manifested triangle cannot be immediately restored. Rather, society will have to be lifted up step by step from the stage of degeneration to the stage of disruption, and then from the stage of disruption to the stage of derangement; and in the final stage balance in the triangle will have to be established (1).

Die menschliche Gesellschaft hat heute ein Stadium der Degeneration erreicht und ist infolgedessen in den Niederungen des ökonomischen Bankrotts, der sozialen Unruhen, der kulturellen Degeneration und des religiösen Aberglaubens angelangt.

Wenn die Gesellschaft erst einmal den Zustand der Degeneration erreicht hat, kann das Gleichgewicht in den Kräftedreiecken (2) nicht sofort wiederhergestellt werden. Vielmehr muss die Gesellschaft Schritt für Schritt vom Stadium der Degeneration zum Stadium der Zerrüttung und dann vom Stadium der Zerrüttung zum Stadium der Verwirrung angehoben und geführt werden; nur so kann das Gleichgewicht jeder Schicht wiederhergestellt werden.

Mit anderen Worten: Für die Überwindung eines degenerierten Zustands braucht es, in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur, zuerst und vor allem Empfindungsfähigkeit; es muss ein Gefühl für Sinnhaftigkeit initiiert werden, bevor man zur mutativen Phase kommen kann. Sobald sich ein Gefühl für Sinnhaftigkeit entwickelt hat, kann das Stadium der Degeneration mit Hilfe der zu Veränderungen drängenden Kräfte in das nächste Stadium überführt werden, bis wir schließlich, gefolgt von weiteren korrigierenden Massnahmen, in das Stadium des ausgeglichenen Pramá eintreten können (3).

Aber was bedeutet das für uns? Es bedeutet meiner Meinung nach, dass wir insbesondere im psycho-sozialen Bereich Themen identifizieren sollten, über die dieser Übergang dann sukzessive angestrebt werden kann. Wie aber sollte das z.B. beim Thema Migration und Ausländerpolitik funktionieren? Und, wie könnte das im politischen Meinungskampf der Parteien, insbesondere unter dem Einfluss diverser Desinformationskampagnen oder, ganz kleinteilig, in unserem kommunalen Umfeld bzw. innerhalb unserer Marga-Community funktionieren?

Zunächst müssen wir anerkennen, dass die Rückkehr zu ausgewogenen Verhältnissen schwierig und konfliktreich ist. Sie führt, wie gesagt, von einem Zustand der Degeneration (= Stagnation) zu einem Zwischenstadium der Disruption und zum ebenfalls konfliktreichen Derangement. Pramá kann also nur dynamisch, d.h. über Auseinandersetzungen, und nicht durch Apeasement erreicht werden.

Damit stehen wir vor einem veritablem Paradoxon: Einerseits sollen wir alles als eine Manifestation der göttlichen Liebe auffassen, andererseits aber gegen die bestehenden Verhältnisse ankämpfen und uns für einen besseren Zustand einsetzen. Der Widerspruch lässt sich meiner Meinung nach nur auflösen, wenn man davon ausgeht, dass der „besten aller möglichen Welten“ eine Aufforderung eingeschrieben ist, dieselbe noch besser zu machen. In einer idealen Welt wäre eine solche Aufforderung dagegen völlig überflüssig.

Das Problem hat übrigens eine klassische Vorlage: Infolge der Zerstörungen und des unvorstellbaren menschlichen Leids, das das Erdbeben von 1755 in Lissabon angerichtet hatte, wurde in ganz Europa über die Frage diskutiert, wie Gott so etwas überhaupt zulassen kann. Die Antwort, die der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz fand und der Kurfürstin Sophie von Hannover im Schlossgarten von Herrenhausen erklärte, lautete: Trotz alledem leben wir in „der besten aller möglichen Welten“. Als Voltaire davon hörte, schrieb er die Satire „Candide“. Darin prangert er die Überheblichkeit des Adels, die Kirche, den Krieg und die Sklaverei an und propagiert, im Gegensatz, zu Leibniz einen gesunden Skeptizismus und Pessimismus.

Übertragen auf unsere Zeit läßt sich der Antagonismus Leibniz versus Voltaire mit dem zwischen unseren tendenziell weltfremden Ananda Margiis und den eher nüchternen Proutisten vergleichen.

P.R. Sarkar schreibt ja: Human society today has reached the stage of degeneration and, as a result, is lost in the wilderness of economic bankruptcy, social unrest, cultural degeneration and religious superstition. D.h., dass wir uns bereits maximal von Pramá entfernt haben und den gesamten Weg über Disruption und Derangement noch vor uns haben.

Wie sollte man also vorgehen? Bei dieser Frage gehen die Meinungen natürlich auseinander: Die einen setzen auf den Kampf und meinen, dass nur so eine Wende zum Besseren erreicht werden kann, während sich andere auf reformerische Bemühungen beschränken, um das Ganze peu à peu auf ein höheres Niveau zu heben.

Als historisches Vorbild kann auf den Dissens zwischen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg auf der einen sowie Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann auf der anderen Seite verwiesen werden.

Am 9. November 1918 hatte Prinz Max von Baden das Amt des Reichskanzlers an Friedrich Ebert übertragen. Daraufhin riefen Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht – getrennt voneinander – die „freie sozialistische Republik Deutschland“ bzw. die „Deutsche Republik“ aus. Rosa Luxemburg wurde am selben Tag aus dem Zuchthaus in Breslau entlassen und traf gleich am nächsten Tag in Berlin ein. Sofort rief sie die Arbeiter- und Soldatenräte dazu auf die Macht zu übernehmen, was, nach Absprache mit Friedrich Ebert, durch regierungstreue Teile der Reichswehr allerdings verhindert wurde (4).

Eine ähnliche Situation – mit allerdings umgekehrtem Vorzeichen – zeigte sich im Kampf der „Roten“ gegen die „Weißen“ in Russland:

Nachdem die Bolschewiki die russische Regierung im Oktober 1917 abgesetzt und die Machtübernahme der Sowjets ausgerufen hatten, begann sogleich ein jahrelanger Bürgerkrieg, in dessen Verlauf 8 bis 10 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Die wichtigsten Kontrahenten waren die von Leo Trotzki organisierte „Rote Armee“ auf der einen und die von den Generälen Kornilow, Krasnow, Koltschak u.a. befehligten Verbände der „Weissen Armee“ auf der anderen Seite. Er endete mit der Einnahme von Wladiwostok im Oktober 1922. Entscheidend für die Niederlage der „Weißen” war ihre Uneinigkeit: Es gelang den reformorientierten Kräften nämlich nicht, sich gegen die Traditionalisten und Monarchisten in den eigenen Reihen durchzusetzen (5).

Es bleibt also festzuhalten, dass Uneinigkeit und mangelnde Abgrenzung von traditionalistischen Bestrebungen die Erfolgschancen reformorientierter Bewegungen beeinträchtigen. Wer sich übermäßig systemkonform verhält, muss sich also den Vorwurf gefallen lassen, seine revolutionäre Gesinnung zugunsten einer konservativen Haltung aufgegeben zu haben.

Insgesamt geht es darum, auch im politischen Bereich eine Gradwanderung durchzuhalten, wobei man sich insbesondere hüten muss, weder in den Habitus eines wilden Revolutionärs, noch in die Selbstbezüglichkeit eines Traditionalisten zu verfallen.

Anders ausgedrückt: Pramá beschreibt nicht nur ein dynamisches Gleichgewicht im sozialen Bereich, sondern auch eine Aufforderung, sich diesen Zustand im persönlichen Leben immer wieder neu zu erarbeiten.

Referenzen:

  1. Shri Prabhat Ranjan Sarkar: Dynamic Balance (Pramá), PROUT GLOBE, May 2011 => http://proutglobe.org/2011/05/dynamic-equilibrium-and-equipoise/
  2. Shrii Rajendra Dev: Pramá – The Principle of Dynamic Harmony, PROUT NOW, November 2021, => https://proutnow.com/wp/2021/11/14/prama-the-principle-of-dynamic-harmony/
  3. Shrii Rajendra Dev: Pramá (Part 2), PROUT NOW, January 2022, =>  https://proutnow.com/wp/2022/01/01/prama-part-2/
  4. Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: Binnen weniger Stunden gingen die Hohenzollern unter, Welt, August 2022 => https://www.welt.de/geschichte/article183563336/Revolution-1918-Binnen-weniger-Stunden-waren-die-Hohenzollern-Geschichte.html
  5. Berthold Seewald: Wer die Nacht überlebte, verbrachte den Tag in Todesangst, Welt, Mai 2019 => https://www.welt.de/geschichte/article192718477/Russischer-Buergerkrieg-Warum-die-Bolschewiki-die-Weissen-besiegten.html

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